Dienstag, 27. Oktober 2020

Paul vs. Neo - zwei Superhelden erwachen


Ein uraltes und immer wieder aufgegriffenes Thema in Erzählungen sind die Geschehnisse, die dazu führen, dass sich ein Mensch zum Helden wandelt. Was ließ eine Person über sich hinauswachsen und die Kräfte entwickeln, über die wir später staunen? In diesem Essay möchte ich den Werdegang zweier bekannter Helden aus Science-Fiction-Filmen beleuchten: Paul Atreides, die Hauptfigur aus David Lynchs Verfilmung von Frank Herberts Roman »Der Wüstenplanet«, und Neo, den Helden aus den »Matrix«-Filmen der Wachowskis. Beide beginnen ihr Leben als Normalsterbliche und beide müssen einen langen und steinigen Weg hinter sich bringen, ehe sie ihr latentes Potential freilegen und nutzen können.

Die Anfänge


Dass Paul und Neo aus zwei völlig verschiedenen Welten stammen, wird gleich zu Beginn der Filme unmissverständlich klar. Paul wird in einer so fernen Zukunft geboren, dass inzwischen nicht nur ein Teil des Universums von der Menschheit besiedelt ist, sondern auch das Feudalsystem des Mittelalters wieder praktiziert wird. Paul ist der einzige Sohn von Herzog Leto Atreides und seiner Konkubine Jessica. Er wird umhegt und gefördert, wie es sich für einen zukünftigen Herzog gebührt, aber all die Fürsorge hat einen ernsten Hintergrund: die Fehden zwischen den Adelshäusern sind blutig und erbittert. Paul benötigt eine gründliche Kampfausbildung, um sich im Ernstfall selbst verteidigen zu können. Der augenscheinliche Wohlstand geht also mit einer ständigen Bedrohung einher.
Neos Umfeld ist weitaus profaner und wirkt im ersten Moment gar nicht weit hergeholt. Neo, der anfangs noch den bürgerlichen Namen Thomas Anderson trägt, verdient sich tagsüber seinen Lebensunterhalt als Software-Entwickler und nachts ein Zubrot als Hacker. Was er seinen Kunden genau verkauft, erfährt der Zuschauer nicht, aber es ist auf jeden Fall etwas Illegales. Neos Welt ist grau und eintönig. Eine Familie oder Freunde hat er anscheinend nicht. Die Einsamkeit lässt Neo viel Zeit zum Grübeln, und er glaubt, ein gewisser Morpheus kenne die Antworten auf die Fragen, die ihn beschleichen.

Der erste Schritt


Im Leben beider ereignet sich eine einschneidende Veränderung der Lebensumstände, die sozusagen den Stein ins Rollen bringt. Bei Paul ist das der Umzug der Familie von seinem Heimatplaneten Caladan auf den Wüstenplaneten Arrakis. Der Kontrast könnte nicht größer sein: waren auf Caladan Springfluten die größte Gefahr, die von den Elementen ausging, so sind es auf Arrakis Sandstürme, musste man sich auf Caladan vor dem Ertrinken schützen, kann man auf Arrakis sehr schnell verdursten. Die Umstellung ist groß, aber zu bewältigen, denn das Haus Atreides ist gut vorbereitet. Weitaus größer ist die Bedrohung durch die hinterhältigen Angriffe des feindlichen Hauses Harkonnen, das den Wüstenplaneten an die Atreides abtreten musste. Pauls Bewusstsein, das durch das Bene-Gesserit-Training seiner Mutter geschärft ist, hilft ihm, Freund von Feind zu unterscheiden und Gefahrensituationen blitzschnell zu erkennen. Die ständige Alarmbereitschaft, in der er sich befindet, erhöht seine Reaktionsfähigkeit. Seine Kampfausbildung ist kein Spiel mehr, sondern findet praktische Anwendung und sichert sein Überleben. Er wächst an den Umständen und wird er-wachsen.

Wenn sich Pauls Szenenwechsel schon sehr dramatisch anhört, ist die Wende in Neos Leben kaum zu toppen. Neos Suche nach Morpheus ist erfolgreich, denn durch sie wird Morpheus seinerseits auf Neo aufmerksam und er kann Neo kontaktieren. Feindliche Agenten, die es auf Morpheus abgesehen haben, stehen einem Treffen der beiden zunächst im Weg. Doch nachdem einige Hindernisse überwunden sind, begegnen sich Neo und Morpheus von Angesicht zu Angesicht. Morpheus bietet Neo an, ihm die unangenehmen Antworten auf seine Fragen zu geben, und Neo entscheidet sich dafür, die Wahrheit zu hören. Diese entpuppt sich als die schlimmstmögliche Interpretation von Neos dumpfem Gefühl, sich in einer Traumwelt zu befinden: Neos vermeintliches Leben wird ihm tatsächlich nur vorgegaukelt; in Wirklichkeit ist Neo einer von Millionen gezüchteter menschlicher Sklaven, die ihr Leben lang mit geschlossenen Augen in einem Biotank dahinvegetieren, um den herrschenden Maschinen als Energiequelle zu dienen. Erst nachdem Morpheus und seine Crew Neo aus dem Biotank befreit und in ihrem Hovercraft aufgepäppelt haben, enthüllt Morpheus seinem Schützling diese schreckliche Wahrheit. Dennoch bricht Neo unter der Last dieses Wissens fast zusammen. Die Fürsorge der Crew und das Training, dem sich Neo in der Folgezeit unterzieht, um sich in der Matrix bewegen zu können, erleichtern ihm die Gewöhnung an die Fakten und die Umstellung auf sein neues Leben.

Prophezeiungen und Prüfungen


Sowohl Paul als auch Neo erfahren vor ihrer jeweiligen Verwandlung davon, dass sie Auserwählte sind.
Pauls erste direkte Konfrontation mit dem Gedanken, dass er übernatürliche Kräfte besitzen könnte, besteht in einer Prüfung, derer ihn die Lehrerin seiner Mutter, die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Moiam, unterzieht. Paul muss tapfer extreme Schmerzen aushalten, was ihm aufgrund seiner geschulten Selbstbeherrschung auch gelingt. Die Ehrwürdige Mutter versucht ihr Staunen über Pauls Kräfte vor diesem zu verbergen, aber aus Gesprächsfetzen, die er mitbekommen hat, reimt er sich zusammen, dass das Bestehen dieser Prüfung etwas Außergewöhnliches darstellt. Im Orden seiner Mutter ist die Rede von einem Superwesen, dem Kwisatz Haderach, und Paul könnte aufgrund seiner genetischen Abstammung dieses Superwesen sein. Als Paul und seine Mutter später Angehörigen des Fremenvolks in der Wüste begegnen, sprechen Letztere ehrfürchtig von der Erfüllung einer alten Prophezeiung. Zuerst nehmen Paul und Jessica dies nicht allzu ernst. Sie müssen die Fremen beeindrucken und nutzen den Effekt zu ihrem Vorteil. Doch im Laufe der Zeit, während die beiden dann bei den Fremen leben, wird Paul immer klarer, dass er ein Auserwählter ist. Seine kleine Schwester wird bereits mit besonderen Kräften geboren und entwickelt sich unnatürlich rasch. Sein neuer Name, Muaddib, hat im Zusammenspiel mit einer stimmengesteuerten Waffe eine tödliche Wirkung. Paul begreift, dass der Satz seines Vaters: »Der Schlafende muss erwachen« eine besondere Bedeutung hat. Er weiß, dass er sich eines Tages der Prüfung unterziehen muss, die Gallenflüssigkeit eines jungen Sandwurms zu trinken. Überlebt er dies, wird sein Bewusstsein auf eine höhere Ebene katapultiert werden.
Und wie erfährt Neo von seiner ungewöhnlichen Bestimmung? Neo sucht anfangs nach Morpheus, weil er sich von ihm wichtige Antworten erhofft. Als sich die beiden gefunden haben, wundert sich Neo darüber, dass Morpheus ihn ebenfalls gesucht hat und dass dieser sich geehrt fühlt, ihn bei sich zu haben. Morpheus sagt Neo auf den Kopf zu, dass er ihn für den Einen, den Auserwählten hält, der die Versklavung der Menschheit beenden kann. Neo hat berechtigte Zweifel daran, denn noch deutet nichts darauf hin, dass er das Zeug zum Übermenschen hat. Morpheus fordert Neo zu einem Kung-Fu-Kampf im »Konstrukt«, der Übungswelt für die Matrix, heraus und versucht ihm klarzumachen, dass hier andere Regeln gelten als in der realen Welt. Neo bekommt eine Ahnung davon, was er meint, aber noch wird aus der Ahnung keine Gewissheit. Beim anschließenden Probesprung im Konstrukt versagt Neo – wie alle vor ihm, die das zum ersten Mal gemacht haben.
Die Crew-Mitglieder sind dennoch zuversichtlich, dass Morpheus den Auserwählten gefunden hat, und unterstützen Neo. Sie sehen mit Spannung einem wichtigen Ereignis entgegen: der Begegnung zwischen Neo und dem Orakel, einem Computerprogramm in der Gestalt einer älteren Frau. Als es soweit ist, fällt dieses Treffen eher enttäuschend aus. Neo glaubt nicht daran, zu Höherem berufen zu sein, und das kluge Orakel lässt ihn in dem Glauben. Sie sagt Neo allerdings eine heikle Situation voraus, in der Morpheus sich für ihn opfern wird. Der Zuschauer sieht Neo quasi dabei zu, wie dieser sich die mentale Notiz macht: »Ich darf nicht zulassen, dass sich Morpheus für mich opfert.« Und er weiß, dass jene Situation über Neos Schicksal entscheiden wird.

Der Durchbruch


Paul lebt mit Chani zusammen und bereitet gemeinsam mit dem Fremenvolk seinen Rachefeldzug gegen die Harkonnen und den Imperator vor. Er hat schon viel erreicht und wird von den Fremen verehrt, da Pauls Offensive gleichzeitig den Fremen ihre Freiheit und ihr Anrecht auf den Wüstenplaneten zurückgibt. Alles läuft nach Plan. Eines Morgens beschließt er spontan und ohne Druck von außen, die oben erwähnte Prüfung auf sich zu nehmen. Chani will ihn davon abhalten, denn sie hat Angst um ihn. Sie hat schon einige Männer bei dieser Prüfung scheitern und sterben sehen. Es besteht eigentlich keine Notwendigkeit für diesen gefährlichen Schritt. Aber Paul hat keine Ruhe, er muss es wagen. Sein Argument lautet, dass er für alle tot ist, wenn er nicht versucht, das zu werden, was er möglicherweise ist. Alsdann geht er hinaus in die Wüste und trinkt im Beisein von Chani und einigen Freunden das »Wasser des Lebens«. Und siehe da: Der Schläfer erwacht. Paul erlebt eine immense Bewusstseinserweiterung. Die Sandwürmer nähern sich ihm und scheinen ihm aus respektvoller Distanz zu huldigen. Paul hat sich in den lange prophezeiten Kwisatz Haderach verwandelt.
Etwas weniger heroisch geht es bei Neos Initiierung zu. Die vom Orakel vorhergesagte Situation, in der sich Morpheus für Neo opfern will, ereignet sich, und Neo ist durch die Worte des Orakels davon überzeugt, dass er Morpheus aus der scheinbar aussichtslosen Lage retten kann. Trinity begleitet Neo auf dem Trip in die Matrix, der zunächst wie ein Selbstmordkommando wirkt, der aber aufgrund von Neos unerschrockenem Handeln von Erfolg gekrönt ist. Es gelingt ihnen, Morpheus aus den Fängen der Agenten zu befreien. Schließlich sind Morpheus und Trinity wohlbehalten aus der Matrix zurück, doch Agent Smith setzt Neo zu und jagt ihn durch die U-Bahn und mehrere Gebäude. Zuletzt gibt es für Neo, der sich wacker geschlagen hat und teilweise bereits über sich hinausgewachsen ist (aber eben nicht genug), kein Entrinnen mehr: er wird von Agent Smith erschossen. Der überraschte Zuschauer fragt sich, wie das Ruder hier noch herumgerissen werden kann, und die Rettung kommt dann auch aus einer unerwarteten Richtung. Trinity, der das Orakel prophezeit hatte, sie werde sich in den Einen verlieben, glaubt fest an Neo, küsst ihn und erweckt ihn dadurch wieder zum Leben. Der neu erwachte Neo besitzt nun die Fähigkeit, die Matrix nach seinen Wünschen zu kontrollieren. Dagegen sind sogar die Agenten machtlos, und Neo besiegt Agent Smith mit Leichtigkeit. Am Ende des Films fliegt Neo aus eigener Kraft durch die Matrix. Auch er benutzt sein Bewusstsein, um die Dinge nach seinen Wünschen zu lenken.

Der Unterschied zwischen den Helden


Ein eklatanter Unterschied zwischen Paul und Neo auf dem Weg zum Helden besteht im Niveau der Selbstsicherheit der beiden Charaktere. Während Paul von Anfang an wirkt wie ein zukünftiger Herrscher, gutaussehend, sportlich und charismatisch, erscheint Neo eher durchschnittlich und recht menschlich. Er beugt sich seinem strengen Vorgesetzten, er traut sich nicht auf das Gerüst hinaus, und er ist den Agenten hilflos ausgeliefert. Als er in der realen Welt von der Crew aus dem Abwasser gefischt wird, bietet er einen mitleiderregenden Anblick. Selbst später, bei seinem Gespräch mit dem Orakel, hat er immer noch etwas Unsicheres, Tapsiges an sich, und er stößt denn auch mit dem Ellbogen eine Vase um. Erst als es darum geht, Morpheus zu retten, entfaltet er sein Potential und kommt richtig in Fahrt. Somit ist Neo ein ganz typisches Beispiel für einen Menschen, der an seinen Aufgaben wächst. Ein psychologischer Nebeneffekt dieser Gegebenheit besteht darin, dass sich der Zuschauer viel eher mit Neo identifizieren kann. Paul hat vom ersten Moment an die Bewunderung des Beobachters, aber Neo steht ihm näher.
Was die Distanz zwischen Paul und dem Zuschauer etwas relativiert, ist die Tatsache, dass dieser junge Mann im ersten Teil des Films fast alles verliert, was sein perfektes Leben ausgemacht hat: er verliert seinen Vater und mit ihm auch die Aussicht auf eine gesicherte Zukunft, seine Freunde, sein angestammtes Heim wie auch sein neues, seine Position und seine Lebensgrundlage. Einzig sein Leben kann er dank der gründlichen Ausbildung, die er genossen hat, verteidigen. Das Hinnehmenmüssen schwerer Verluste macht Paul wieder menschlich und bringt ihm das Mitgefühl des Zuschauers ein.

Wodurch finden die beiden ihren Weg?


Rückblickend stellt sich die interessante Frage, welche Faktoren unsere Figuren in die richtige Richtung gelenkt haben, denn die Verwandlung in einen Helden war für beide keineswegs unausweichlich.
Pauls Grundlage für seine Metamorphose war sein umfassendes Training oder, abstrakt ausgedrückt, die Loyalität gegenüber seinen Eltern und die Bereitschaft, an sich zu arbeiten. Hätte er als Junge den Unterricht nur halbherzig über sich ergehen lassen, dann hätte er die Prüfung der Ehrwürdigen Mutter und auch spätere Gefahren nicht überlebt, und er hätte sich nicht die wichtige Stellung bei den Fremen erkämpfen können. Den eigentlichen Schritt zum Superhelden vollzog er aber durch seine freiwillige Prüfung in der Wüste. Dies erforderte eine große Portion Mut, den er deshalb aufbrachte, weil er dem Ruf seines Vaters folgen und diesen rächen wollte. Ihm ist bewusst, dass er als Übermensch weitaus größere Chancen auf Erfolg hat. Sein Motiv war also in erster Linie die Liebe zu seinem Vater.
Neos Schicksal erfährt eine erste Wendung, weil er seinem Instinkt folgt, sich Fragen stellt, sich auf die Suche nach Antworten macht und so zu Morpheus gelangt. Sein kritischer Geist schafft folglich die Voraussetzung für seine spätere Entwicklung. An Bord von Morpheus' Hovercraft stürzt er sich bereitwillig in das Training im Konstrukt, das ihm dann – wie in Pauls Fall – in lebensbedrohlichen Kämpfen hilft. Entscheidend ist auch, dass Neo auf seine neuen Freunde hört und ihnen vertraut. Und als es darum geht, Morpheus zu retten, ist Neo selbstlos und mutig. Was ihn aber im entscheidenden Moment zum Superhelden mutieren lässt, ist Trinitys Liebe. Ohne ihren Kuss wäre Neo nicht mehr aufgewacht.
Das erstaunliche Fazit lautet: Obwohl in beiden Filmen Kämpfe und ausgeklügelte Strategien im Vordergrund stehen, ist der Auslöser für die Verwandlung in einen Helden letztendlich die Liebe.

Zum Abschluss noch eine Tatsache, die bei all der Action leicht zu übersehen ist: Die Zeit muss reif sein. Der Weg des Helden kennt keine Abkürzungen. Die Gedanken, Handlungen und Reaktionen aller Beteiligten beeinflussen sich so lange gegenseitig, bis alles im entscheidenden Punkt kulminiert und eine neue Realität hervorbringt. Mit Gewalt ist das nicht zu erreichen.

Wer ein Held werden möchte, sollte also an sich arbeiten, seinen Instinkten vertrauen, geduldig sein, Mut und Vertrauen haben und an seiner Liebe festhalten.

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